Die Dame am Fenster

Küche, 6:37h

Ich sitze am Tisch, mit Blick aus dem Fenster auf die Straßenkreuzung. Die Weihnachtssterne der Nachbarn hängen dieses Jahr länger als üblich in den Balkonen, schaukeln und leuchten im Frühlingswind.
Der Tisch ist gedeckt, ein Buch liegt zwischen dem Teller, der Butterdose und dem Käsebrett.
Ich wärme mir die Hände an der Heizung. Der Wasserkocher rauscht, gleich brühe ich mir meinen Kaffee auf.

Küche, 7:39h
Die Tulpen stehen stumm und wunderschön auf dem Tisch. Gelbe und Rote. Der Kaffee ist ausgetrunken. Ich habe inzwischen die Zeitung hochgeholt. Sie liegt neben dem leeren Kaffeebecher auf dem Buch. 
Das Buch, das ich immer noch nicht begonnen habe zu lesen. Dabei hat es mir meine beste Freundin empfohlen. Es fällt mir schwer zu lesen. Seit Fritz tot ist, lese ich nur noch kurze Sachen, so wie Artikel in der Zeitung. Dort steht jetzt alles voller Coronanachrichten.

Küche, 10:03h

Ich habe den Abwasch gemacht und die ersten paar Seiten in Birgitt´s Buch gelesen. Und telefoniert. Habe mich endlich getraut, die Nummer auf der Impfeinladung zu wählen – und bin direkt durchgekommen: Ich habe meinen Impftermin. Bin ja die einzige in meinem Freundes- und Familienkreis, die schon über 80 ist. Krank sind jedoch die anderen. Zwei meiner Freunde haben Krebs. Meine beste Freundin ist schwer zuckerkrank, hat immer ein dickes Knie und geht kaum noch aus dem Haus. Ich besuche sie ab und zu. Seit Corona treffen wir uns auf der kleinen Rasenfläche hinter ihrem Haus. Sie reicht mir die Thermoskanne mit den beiden Bechern aus dem Fenster ihrer Erdgeschosswohnung. Ein paar Minuten später kommt sie dann aus der Tür gehumpelt.
Wir setzen uns auf die Bank am Sandkasten – mit Abstand, und trinken Kaffee. Jetzt ist es dafür zu kalt. Da telefonieren wir.
Weihnachten war schlimm. Ich durfte die Enkel zwar sehen – aber nur von weitem.
Vor Corona kamen sie immer zu mir an Weihnachten.
Meine Tochter war anfangs öfters mal da, um mir Einkäufe zu bringen. Dann war sie so beschäftigt mit dem Homeschooling und Homeoffice, daß ich ihr sagte, sie bräuchte nicht für mich einkaufen. 
Ich gehe selber. Maske auf und los gehts. Vor Corona habe ich Einkaufen nicht sonderlich gemocht. Doch jetzt ist es eine Möglichkeit rauszukommen. Sonst fällt einem ja die Decke auf den Kopf.

Küche, 11:17h

Draußen singt unermüdlich eine Amsel. Sie macht das jeden Morgen und den halben Tag. Ich glaube, sie tat das schon, als Fritz noch lebte. Wie alt werden eigentlich Amseln?
Ich setze mich noch ein wenig, hier auf meinen Platz in der Küche, am Fenster. Heute kommt ja keiner zu Besuch. Morgen auch nicht. Da kann man das Staubsaugen auch mal ausfallen lassen. 
Was wohl Fritz gesagt hätte, zu dieser Coronazeit? Man muß vernünftig sein und eben tun, was zu tun ist. Das Beste daraus machen. Versuchen, die Dinge positiv zu sehen und sich an kleinen Dingen erfreuen. 
Deshalb habe ich mir ja auch die Tulpen gekauft. Einen großen Strauß! Nein – zwei! Ja, es sind nur Supermarkttulpen, aber egal. Ich habe dafür die Milchpackung nicht gekauft, weil es sonst zu schwer geworden wäre. Aber ich wollte es schön haben. Wenn ich hier schon so viel herumsitze. Ein Teil der Blumen steht auf dem Küchentisch, der andere im Wohnzimmer. Bei Fritz. Bei Fritz´ Bild auf der kleinen Kommode beim Fernseher.

Küche, 12:09h

An der Straßenecke vor meinem Fenster kommt jetzt wieder der Mann mit der kleinen Dackeldame Lucy! Wie süß! Aber wie fett sie geworden ist. Wenn er mich am Fenster sieht, dann winkt er. Heute trägt er einen Mundschutz und schaut nicht hoch.

Schlafzimmer, 15:01h

Ich hatte mich etwas hingelegt. Nun sitze ich auf der Bettkante und bewege mich ein bißchen. Morgens mache ich immer Gymnastik. Dazu öffne ich das Fenster weit, auch im Winter. 
Das Tanzen mit den anderen Damen fehlt mir! Ich gehe zu verschiedenen Tanzkreisen. Aber das ist jetzt natürlich immer ausgefallen. Eine Lehrerin aus einem Tanzkreis gibt Unterricht über Video, übers Internet. Da könnte man dann die Schritte bei sich hier im Wohnzimmer üben und sie auf dem Bildschirm sehen. Die anderen machen das. Aber sie sind ja auch alle jünger und technisch versierter. Ich habe kein „Zoom“. Und ich habe auch keinen Computer. 
Das Schlafzimmer ist oben, wir haben eine Maisonettewohnung. Ich sage immer noch „wir“, dabei ist Fritz schon viele Jahre nicht mehr da.
Anfangs konnte ich garnicht allein einschlafen. Kurz hatte ich auch mal überlegt in eine kleinere Wohnung zu ziehen oder in ein betreutes Wohnen. Aber ich hänge an diesem Ort. Es ist mein Zuhause. Hier sind die Kinder groß geworden. Hier haben wir Partys gefeiert, mit all unseren Freunden.

Wohnzimmer, 19:53h

Ich sitze in meinem Sessel. In Fritz` Sessel. Habe mir meine Lieblingsdecke umgeschlungen. Neben mir ein paar Mon Cherie und ein Becher Tee. Werde gleich mal Nachrichten im Fernsehen gucken.
Fritz sieht mir zu. Von seinem Platz neben den Tulpen.

 

(Diese Geschichte erschien in der ZEILE, dem Johannstädter Stadtteilamagazin, 2021)